#19 Wieviel Spaß bleibt uns noch?

Realitätsflucht – Ein neuer Trend?

„Eskapismus“, habe ich aus für mich aktuellem Anlass gerade gelesen, bezeichnet

„(…) die Flucht aus oder vor der realen Welt und das Meiden derselben mit ihren Anforderungen zugunsten einer Scheinwirklichkeit, d. h. imaginären oder möglichen besseren Wirklichkeit.“

Wikipedia zum Begriff „Eskapismus“

Der Tagesschausprecher Constantin Schreiber äußerte sich kürzlich in einem Artikel des Sterns darüber, dass er manch schlechte Nachricht, über die er regelmäßig zu berichten hat, mit ins Bett nimmt und daher aktiv nach Strategien suchen muss, um immer wieder den Kopf frei zu bekommen. Jeder Mensch, so sagt er, müsse eine eigene Form von Eskapismus finden, um mit schlechten Nachrichten fertig zu werden. Dass ein solcher Eskapismus nicht immer leicht fällt und manchmal auch Fragen hinterlassen kann, darüber möchte ich dir heute eine sehr persönliche Geschichte erzählen.

Keine Termine und leicht einen sitzen 🤪

„Keine Termine und leicht einen sitzen“. Das ist mein heutiges Motto. Das habe ich auch so auf die Einladungen geschrieben, die ich schon vor Monaten versendet habe. An meinem 50. Geburtstag möchte ich nichts dem Zufall überlassen und habe alles langfristig geplant, organisiert, eingekauft und vorbereitet. Einfach einen ganzen Tag lang mit den Menschen, die mir etwas bedeuten, feiern, essen, trinken, quatschen und viel Spaß haben. Das war mein Wunsch. Ich habe mir um meinen Geburtstag herum ein paar Tage Urlaub genommen, um den Kopf so richtig frei zu haben, alles in Ruhe vorbereiten und mich nach der Party dann noch etwas erholen zu können.

Die letzten Tage waren schon Vorfreude pur und heute Vormittag ging’s zum gemeinsamen Brunch nun endlich los. Im Hintergrund dudelt die Playlist, die ich speziell für den heutigen Tag zusammengestellt habe. Musik war mir schon immer wichtig, vor allem die Musik, die ich noch aus meiner Jugend kenne. Hier schwingt in jedem Lied eine ganz besondere Erinnerung mit, die die meisten meiner heutigen Gäste mit mir teilen.

Essen und Trinken ist an so einem Tag natürlich auch wichtig. Das Buffet ist reichlich gedeckt, die Getränkevorräte habe ich vorsichtshalber etwas üppiger angelegt. Mir ist es lieber, wenn noch was übrig bleibt, als dass auch nur ein einziger Gast nicht genug zu trinken bekommt. Natürlich soll auch der Gastgeber nicht verdursten. Und das tut er auch nicht. Obwohl es gerade mal früher Nachmittag ist, lebe ich mein heutiges Motto „Keine Termine und leicht einen sitzen“ bereits seit Stunden perfekt aus.

Ich sehe mit wohliger Begeisterung, dass alles seinen erhofften Verlauf nimmt und freue mich, dass sich der Saal zunehmend mit all den lieben Menschen aus meinem Familien- und Freundeskreis füllt und die Stimmung vom Start weg hervorragend ist. Jeder ist gekommen, um sich zu amüsieren und tut das offensichtlich auch. Ich springe euphorisch mit meinem Sektglas, welches mir immer wieder jemand auffüllt, zwischen meinen Gästen hin und her, nehme Gratulationen, Geschenke und Umarmungen entgegen. Ich genieße jeden Augenblick und bin an diesem Samstag im Herbst 2023 auf meiner ganz persönlichen Insel der Glückseligen. Schon in diesem Moment ist mir bewusst, dass ich mich mein Leben lang an diesen wunderschönen Tag erinnern werde.

Mein Plan für heute?

Party.

Schlechte Nachrichten!

An dieser Stelle muss ich meinen Partybericht leider unterbrechen, denn genau in der Zeile mit dem „wunderschönen Tag“ zeigt sich die ganze Komplexität, Widersprüchlichkeit und Verunsicherung, in der wir in der heutigen Welt leben. Im selben Augenblick nämlich, in dem ich mich ahnungslos und voller Freude meiner Party hingebe, erleben gerade einmal 3.000 Kilometer entfernt von mir unzählige Menschen den furchtbarsten Tag ihres Lebens. Ganze Familien werden in diesem Moment auf grausamste Art gefoltert, verletzt, verschleppt oder getötet. Jetzt genau in diesem Augenblick, wo es mir nicht besser gehen könnte.

Dieser Tag sollte doch MIR gehören! 😭

Dieser Tag, MEIN TAG, wird in die Geschichte eingehen mit der Schlagzeile „Terrorangriff der Hamas auf Israel“. Ich denke, ich muss an dieser Stelle nicht mehr viel darüber schreiben, was an diesem Tag und seither alles in der Region geschehen ist und welche Bedeutung er – auch weltpolitisch – hat, ganz abgesehen davon, dass niemand weiß, was sich daraus noch alles entwickeln wird. Während ich diese Zeilen hier schreibe, tobt infolge der Ereignisse in Nahost ein schrecklicher Krieg, der Tag für Tag Menschenleben fordert. Und ein Ende oder gar eine Lösung ist – Stand heute – nicht in Sicht.

Und das alles begann an dem Tag, an dem ich auf meiner Party in einem einzigen Freudentaumel bin. Die Nachricht vom Angriff auf Israel erreicht mich, als jemand zu mir sagt: „Du, hast du schon von Israel gehört? Da ist jetzt Krieg!“ Und ich so: „Äh, nee, ich habe heute noch keine Nachrichten gehört oder gelesen und habe das für den restlichen Tag auch nicht vor.“ Nun halte ich mich eh für keinen News Junkie und stehe eigentlich auf dem Standpunkt, dass es einen Tag lang auch mal ohne Nachrichten gehen muss.

„News avoidance“ unter erschwerten Bedingungen 🙈 🙉 

Doch an diesem Tag fällt es mir dann doch schwer, nicht mein Handy zu zücken, um mich ins Bild der aktuellen Geschehnisse zu setzen. Was würde das hier und jetzt auch bringen? Wäre das nicht irgendwie eine ziemlich perverse Szene, wie ich hier schön beschwippst mit meinem Glas – mittlerweile bin ich auf Bier umgestiegen – stehe und durch die Katastrophenmeldungen der Nachrichtenportale scrolle, während im Hintergrund die ersten meiner angeheiterten Gäste lauthals zum alten Schlager „Wann wird’s mal wieder richtig Sommer“ mitgrölen?

Welchen Sinn hätte es, mich in dieser Situation auf den neuesten Stand zu bringen und mir von den Betreibern der News-Blogs die stetig steigenden Zahlen der Todesopfer mitteilen zu lassen? Wäre das nicht die übelste Form von Gaffertum und Sensationsgier? Wozu brauche ich in diesem Augenblick überhaupt Details? Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass es passiert ist, denn einer meiner Gäste arbeitet bei einem großen Nachrichtenmagazin und verbrachte die heutige Frühschicht mit nichts anderem als dem Angriff auf Israel. Das muss doch heute für mich erstmal reichen oder nicht? Egal, wieviel ich wüsste, ich könnte nichts ändern, nichts ungeschehen machen.

„Haste schon gehört …?“

„Äh, nee. Heute mal keine Nachrichten für mich.“

Ich fühle mich trotzdem irgendwie in einem Dilemma. Wie betroffen, berührt, schockiert muss ich jetzt eigentlich angesichts dieser furchtbaren Nachrichten sein? Muss ich meinen überwiegend noch ahnungslosen Gästen erzählen, was ich gerade erfahren habe? Darf ich überhaupt weiterfeiern? Das alles schießt mir in Sekundenbruchteilen durch den Kopf. Was ist denn heute vielleicht noch alles passiert, was meine Stimmung und meine Legitimation zum Feiern beeinträchtigen könnte? Gibt es auf dieser Welt nicht in jedem Augenblick irgendwo irgendwelches, unvorstellbares Leid? Wieviel Platz muss ich in meiner Gedankenwelt und in meinem Herzen reservieren für das Leid anderer?

Ich wünschte, ich würde in der Steinzeit leben

Möglich wäre jedenfalls vieles, was mir heute entgeht. Neue Luftangriffe in der Ukraine? Ein Erbeben in Afghanistan? Ein Amoklauf an einer Schule in den USA? Vielleicht habe ich durch meine heutige „News avoidance“ auch einen Flugzeugabsturz, die Explosion eines Atomkraftwerks oder die Havarie eines Supertankers verpasst, dessen ausströmendes Öl gerade ein riesiges Naturschutzgebiet nachhaltig verseucht. Vielleicht ist in China aber auch einer dieser berühmten Säcke mit Reis umgefallen und ich habe es nicht sofort mitbekommen.

Manchmal beneide ich angesichts dieses Dauerfeuers schlechter Nachrichten aus aller Welt die Menschen, die in der Steinzeit gelebt haben. Da hatte doch alles, was auf sie einwirkte eine direkte Relevanz. Also im Klartext: Wenn auf einmal so ein Säbelzahntiger vor mir stünde, würde ich doch denken: „Uups, also das ist jetzt mal wirklich relevant für mich. Entweder ramme ich dem jetzt meinen Speer zwischen die Augen oder ich werde die nächsten Minuten mit aller Wahrscheinlichkeit nicht überleben.“ Was ein paar hundert oder gar tausend Kilometer von ihm entfernt passiert, würde unser Steinzeitmensch wahrscheinlich nie im Leben erfahren. Dagegen ist es bei vielem, was heute tagtäglich auf uns einwirkt, meist unklar, welche konkrete Bedeutung es – wenn überhaupt – für uns persönlich hat und wie wir uns am besten dazu verhalten.

„Uups, also das ist jetzt mal wirklich relevant für mich.“

… dachte der Steinzeitmensch, als ihm der Säbelzahntiger gegenüberstand.

Während ich jedenfalls an meinem Geburtstag inmitten des Partygetümmels über die aktuelle Nachrichtenlage sinniere, bereits nach meinem Smartphone in der Hosentasche taste und versuche, mir die Situation der betroffenen Menschen im Nahen Osten vorzustellen, werde ich von hinten angerempelt: „Ey, watt stehste da so rum?! Komm’ rüber, die Jungs haben gerade den Jägi aufgemacht!“ „Ach ja, der Jägi“, denke ich und erwache aus meiner kurzen Starre. Mit dem „Jägi“ ist die große Flasche Jägermeister gemeint, die gerade jemand am Getränketisch entdeckt hat. Wurde auch Zeit, dass die mal einer aufmacht. Keine Minute später stehe ich schon im Kreis meiner Freunde und wir stoßen beherzt miteinander an. Worauf? Natürlich auf mich, das Geburtstagskind und auf mein halbes Jahrhundert. Das ist an diesem Tag Programm und das wird noch bis spät in die Nacht so weitergehen. Gut, dass der Getränkevorrat groß und meine Playlist lang genug ist. Und gut, dass ich so viele tolle Menschen um mich habe. Ist es verwerflich, wenn das heute das einzig relevante für mich ist?

Das soll es für heute erstmal gewesen sein. Danke für dein Interesse, bis bald und herzliche Grüße,

Till Aigner

Level X Gründer und Autor. Motto: Die Midlife-Crisis als Chance und Abenteuer begreifen.

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