#16 Warum Jungbleiben eine Illusion ist

Eine Reise in die Vergangenheit

„Schau mal hier!“, „Boah krass!“, „Wann war DAS denn?“, „Uuuuh, nein! Wie du da aussiehst!“, „Was hast du denn DA an?“, „Alter! Deine Frisur! Nee, oder?!“ Wir gackern und kichern, fast noch alberner als die Teenager-Girlies am Nebentisch, während wir unsere Smartphones einander weiterreichen, immer im Kreis herum. Irgendeiner kramt aus den Tiefen seines digitalen Fotoalbums immer noch irgendeine alte 80er- oder 90er-Rosine heraus, über die wir alle herzlich lachen. 

Wir, das sind ein paar alte Schulfreunde, die auch noch 30 Jahre nach dem Abitur freundschaftlichen Kontakt zueinander halten. Heute sind wir nur zu viert, zwei fehlen. Einer hat Rücken, dem anderen war die Location, auf die unsere Wahl schließlich gefallen war, ein mexikanisches Restaurant in einem Berliner Randbezirk, „zu weit draußen“.

Oldschool und stolz darauf.

Unsere Verabredungen treffen wir regelmäßig in unserer „Altherren-WhatsApp-Gruppe“. Diese schmückt ein Profilbild, auf welcher eine Audiokassette mit der Aufschrift „Oldschool“ zu sehen ist. Die Audiokassette! Das ist die Devotionalie ehemaliger 70er-Jahre-Kids schlechthin. Wer sich mit irgendwelchen Bildern dieser Art, wahlweise auch mit solchen von grünen Telefonen mit Wählscheibe umgibt, hat seine frühe Kindheit mit großer Wahrscheinlichkeit in den 70ern verbracht, so wie wir. Und wir werden auch nicht müde, uns selbst und unseren eigenen Kindern bei jeder Gelegenheit zu erzählen, dass wir ja noch die Zeit VOR dem Internet erlebt haben, was die Kids von heute weit weniger beeindruckend finden als wir selbst.

Die Audio­kassette! Die Devotionalie ehemaliger 70er-Jahre-Kids schlechthin.

Die Zeit – spurlos an uns vorübergegangen?

Zurück zu unserem „Altherren-Treff“. Naja, soooo alt sind wir nun auch wieder nicht, mittlerweile 50 oder ganz kurz davor. Aber wenn ich meine Kumpels (ihre Namen habe ich im Folgenden geändert) hier und heute beim Mexikaner so betrachte, dann haben wir uns irgendwie gar nicht verändert. 

Andreas trägt immer noch seine aufmüpfige, überhebliche „Watt?-Wer-bist-DU-denn-Art“ zur Schau und hat die dazu passende freche Schnauze. Mit diesen Werkzeugen konnte er zu Schulzeiten die Contenance jedes noch so stoischen und stressresistenten Lehrers brechen wie eine Salzstange. Und während er das tat, waren wir sein dankbares Publikum, welches sich amüsiert daran erlabte, wie dieser altkluge, vorlaute aber enorm eloquente und schlagfertige Lümmel eine Spur mentaler Verwüstung durchs Lehrerkollegium zog. Ich will nicht wissen, wieviele Lehrer sich abends zu Hause ein extragroßes Glas Wein hinter die Binde gekippt haben, um die Frechheiten dieses renitenten Klugscheißers herunterzuspülen. Andreas hat diese Art bis heute nicht abgelegt und ist dabei immer noch genauso unfreiwillig komisch wie damals, was alles noch viel lustiger macht. 

Mark hat wie zu Schulzeiten noch diesen gehetzten Blick und die aufgeregten roten Bäckchen, die er immer bekam, wenn unser Französischlehrer ihn unerwartet aufrief und ihn unregelmäßige Verben konjugieren ließ, die er mit zuverlässiger Regelmäßigkeit nie beherrschte. Mark hat mittlerweile schon einen Herzinfarkt hinter sich, von daher ist das mit seinem Blutdruck und seinem rötlichen Gesicht nun gar nicht mehr so lustig wie früher. Aber ansonsten sehe ich auch in ihm immer noch den Menschen, den ich schon vor 30 Jahren jeden Tag im Klassenraum gesehen habe. Er hat sich seit ein paar Jahren den Kopf Bruce-Willis-mäßig ziemlich kahl rasiert, so dass man kaum wahrnimmt, dass da eigentlich gar nicht mehr so viel zu rasieren ist.  

Christoph sitzt direkt neben mir und während ich ihn so von der Seite beäuge, nach irgendetwas suchend, was darauf hindeuten könnte, dass auch er demnächst 50 wird, finde ich kaum etwas. Ich sehe zu ihm hinüber und realisiere, dass ich immer noch neben dem selben Typen sitze, mit dem ich vor über drei Jahrzehnten bei uns im Kiez Skateboard gefahren bin. Da hatte er noch recht lange, etwas zottlige Haare, so wie einst Kurt Cobain von Nirvana. Christoph kleidete sich auch wie Cobain und wollte sich – ganz im Sinne des Grunge – mit dieser Scheiß-Egal-Haltung schmücken. So richtig nahmen wir ihm das aber nie ab. Er war notenmäßig der Beste von uns und tat meist so, als hätte er bei der letzten Klausur einfach nur Glück gehabt. Ist schon cool, so eine Glückssträhne, die konstant von der 1. Klasse bis zum Abitur anhält. Mittlerweile ist er Studienrat und unterrichtet angehende Abiturienten. Und auch wenn er heute kürzere Haare und etwas ordentlichere Kleidung als damals trägt, scheinen die letzten dreißig Jahre spurlos an ihm vorübergezogen zu sein. Ich bilde mir irgendwie ein, dass wir alle gar nicht die typischen 50-jährigen zu sein scheinen, sondern noch zur Sorte „junggeblieben“ gehören.

Ich bilde mir irgendwie ein, dass wir alle gar nicht die typischen 50-jährigen zu sein scheinen, sondern noch zur Sorte „junggeblieben“ gehören.

Und so verbringen wir wie immer einen großartigen Abend miteinander.

Die Zeit seit 1990 scheint stehen­geblieben zu sein, weil wir gemeinsam mal wieder so viele Erinnerungen zum Leben erwecken. Wir sind wieder voll in der Zeit zwischen 7. Klasse und Abi-Party und vergessen streckenweise, dass das alles 30 Jahre her ist. 

Irgendwann muss ich dann doch mal „mein Bier wegbringen“ und mache mich in dem etwas unübersichtlichen Lokal, in welchem ich heute zum ersten Mal bin, auf die Suche nach dem WC. Und wie ich mich da so umschaue, bemerke ich, wie bunt gemischt das Publikum hier ist:

Da sitzen zum Beispiel die vier schnatternden Teenager-Girlies, die ich schon den ganzen Abend lang, zumindest akustisch, wahrgenommen habe. So laut kann diese Spezies sein? Ich dachte, in dem Alter hätten die alle ihre Stimme verloren. Meine pubertierende Tochter jedenfalls geht aktuell außerordentlich sparsam mit ihrem Sprechwerkzeug um, zumindest, wenn es um die Kommunikation mit uns Eltern geht. Am Nebentisch hockt ein junges, müde wirkendes Pärchen mit Kinderwagen. Vom Inhalt dieses Kinderwagens geht eine angenehme Ruhe aus, die beide sehr bewusst zu genießen scheinen. Weiter hinten quatscht und gestikuliert ein Hipster-Typ mit Kaiser-Wilhelm-Schnauzer bedeutungsvoll herum. Ihm gegenüber sitzt sein weibliches Pendant und klebt – scheinbar schwer verliebt – an seinen Lippen.

Dann komme ich noch an einem Tisch vorbei, wo eine Gruppe von Frauen sitzt, die ich auf die Schnelle auf etwa Jahrgang ’85 schätze. Auch wenn ich mir vorgenommen habe, auf jegliches Schubladen-Denken zu verzichten, landen alle in Bruchteilen von Sekunden in meiner Schublade mit der Aufschrift „Unbemannte Hetero-Sekretärinnen aus dem Berliner Randbezirk, die nach Feierabend zum Mexikaner und danach noch in die Cocktailbar gehen, obwohl noch gar nicht Wochenende ist.“ Am Tisch neben ihnen sitzt ein älteres Pärchen, beide mindestens Mitte 70. Bedächtig verzehren sie etwas, was ich auf die Schnelle als Quesadilla identifiziere. 

Endlich identifiziere ich auch die Tür mit der Aufschrift WC, also nichts wie rein. Die Toiletten sind angenehm leer und sauber und nachdem ich schließlich auch meinen obligatorischen Kampf mit den eigenwilligen, weil licht­schranken­gesteuerten Wasserhähnen, Seifenspendern und Handtrocknern ausgefochten habe, trete ich nach wenigen Minuten wieder zurück in den Restaurant­bereich. 

Das Flackern der Matrix

In der etwas verwinkelten Location muss ich mich erst einmal wieder kurz orientieren, um den Weg zurück zu unserem Tisch zu finden. OK, da sind die beiden Alten mit ihren Quesadillas, dahinter sitzen die unbemannten Sekretärinnen, dann kommt das Hipster-Pärchen und schließlich der immer noch ruhige Kinderwagen, der von den beiden erschöpften Eltern bewacht wird, die sich gerade mit ausdrucksloser Miene ihren Absacker herunterschütten. Danach folgt der Tisch mit den immer noch schnatternden und gackernden Teenager-Girlies. Am Nebentisch – das hatte ich vorhin noch gar nicht wahrgenommen – sitzen drei ältere Herren. Wie alt die sind, kann ich auf die Schnelle gar nicht sagen, jedenfalls älter als ich. Sie nippen an ihren Bieren und unterhalten sich angeregt. Hä?! Aber wohin haben sich meine Kumpels denn so schnell verdrückt? Wollten wir hier nicht noch essen? Die wären doch nicht ohne mich einfach abgehauen. Oder sind die alle unbemerkt an mir vorbei zum Rudelpinkeln aufs Klo marschiert? OK, ich warte hier jetzt kurz, die werden schon gleich zurückkommen.

Ich lehne mich an den Tresen und atme tief durch. Früher wurde in solchen Locations noch geraucht, was das Zeug hält. Da hätte man um diese Uhrzeit die Luft schon mit einem Messer schneiden können und nach der Heimkehr gestunken wie ein Braunkohlewerk. Plötzlich vernehme ich die typische Klugscheißer-Stimme von Andreas. Ich versuche, in dem ganzen Stimmengewirr die Richtung auszumachen, aus der ich ihn sprechen höre. Mein Blick wandert herum und landet – das gibt’s doch nicht –  an dem Tisch, wo die drei älteren Herren sitzen. Wieso hat sich Andreas denn zu denen gesetzt? Ich kneife die Augen zusammen und blinzele angestrengt zu dem Tisch mit den drei älteren Herren hinüber. Und dann – als hätte jemand gerade die Matrix außer Kraft gesetzt, erkenne ich sie. Die drei älteren Herren sind meine Freunde Andreas, Mark und Christoph. 

Fehler in der Matrix?

Ein Fehler in der Matrix?

Oder waren es meine durch die lange gemeinsame Vergangenheit konditionierten Wahrnehmungsfilter?

Verdammt nochmal! Objektiv betrachtet, also wenn ich alle meine durch die lange gemeinsame Vergangenheit konditionierten Wahrnehmungsfilter deaktiviere und sie so betrachte, wie ich wildfremde Menschen betrachte, dann sehen sie auf einmal alle viel älter aus. Und plötzlich – als hätte mir das erstmal wieder jemand bewusst machen müssen – wird mir klar, dass wir 2023 und nicht mehr 1993 haben und wir nicht von der Natur begünstigt und deshalb auch nicht jung geblieben sind. Wir sind 50 und wir sehen auch so aus: weniger Haare, die aber schon leicht angegraut, schlaffere Haut, Falten hier und da und bei dem einen oder anderen zeigt sich das „Ich-müsste-ja-auch-mal-wieder-was-tun-Bäuchlein“. Naja, das ganz normale Alterungsprogramm halt. Wir reden auch wie 50-jährige. Unsere Interessen, unsere Themen, unser Humor, unsere Probleme, all das ist mit uns zusammen älter geworden und hat nun ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel.

Wir werden sterben.

Und wenn es heute Abend eine Erkenntnis für mich gibt, dann die, dass das alles nicht einfach nur der unabänderliche Gang der Dinge ist, den man zu bedauern hätte. Im Gegenteil. Das Gefühl, welches ich habe, als ich am späten Abend nach Hause komme, lässt sich sehr einfach auf den Punkt bringen: Dankbarkeit.

Wofür ich dankbar bin? Das kann ich am besten mit den Worten der Schriftstellerin Katrin Seddig erklären, die in dem Buch von Bettina Baláka „Wechselhafte Jahre“ über das Älterwerden schreibt:

Meinen fünfzigsten Geburtstag eröffnete ich mit den Worten: „Wenn ich mich hier so umsehe, dann sind hier alles alte Leute, wie kann das nur sein?“ Es war ein Scherz, aber es war auch die Wahrheit. Um mich herum waren meine Freund*innen, gerade waren sie noch jung gewesen, und wie ich sie so alle beisammen sah, war es mir ganz deutlich, dass sie es nicht mehr waren. Es erfüllte mich mit einer großen Zärtlichkeit. Wir werden sterben, dachte ich, aber jetzt sind wir noch hier. Wir feiern meinen Geburtstag, wir feiern mein Alter.

Bettina Baláka, Wechselhafte Jahre, S. 22 1

Das soll es für heute erstmal gewesen sein. Danke für dein Interesse, bis bald und herzliche Grüße,

Till Aigner

Level X Gründer und Autor. Motto: Die Midlife-Crisis als Chance und Abenteuer begreifen.

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Quellen

Bettina Baláka

Titel:Wechselhafte Jahre – Schriftstellerinnen übers Älterwerden
Autor:Bettina Baláka
Herausgeber:Leykam Verlag, Graz, Wien, Berlin (2023)
Seiten:204
ISBN 10:3701182639
ISBN-13978-3701182633
SpracheDeutsch

2 Gedanken zu „#16 Warum Jungbleiben eine Illusion ist“

  1. Wieder ein wunderbarer Beitrag zum Thema #midlifecrisis: vielen Dank dafür! Ich empfehle ihn unseren Leserinnen und Lesern gerne weiter.

    Beste Grüße,
    Eddy

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