Neulich hatte ich mal wieder einen interessanten Dialog mit meiner Midlife-Crisis und dachte darüber nach, was mir heutzutage eigentlich noch peinlich sein muss. Ich kam zu dem vorläufigen Ergebnis, dass mein Alter für mich arbeitet. Ich kann mit solidem Selbstvertrauen, einer gewissen Schmerzfreiheit und Selbstverständlichkeit Dinge tun, die mir in jungen Jahren noch höchst unangenehm gewesen wären. Oder mach ich mir da was vor?
In meinem Faktencheck erfährst du mehr zu der Frage: Woran erkenne ich eine Midlife-Crisis?
Im Minenfeld der Selbstfindung
Fußangeln, Fettnäpfchen und No-Gos aller Art gab es im jugendlichen Alter genug. Das dürfte daran liegen, dass man bei der Findung seiner eigenen Identität bestimmten Vorbildern oder Vorstellungen gerecht werden wollte und sich dabei gezwungenermaßen einer ganzen Reihe von Regeln und Beschränkungen unterwarf. Im Nachhinein und bei näherer Betrachtung war das eigentlich eine bedauernswerte Limitierung. Man hätte gern dies oder das gesagt oder gemacht, aber das hätte in den Kreisen, in denen man sich bewegte oder gern bewegen wollte, Punktabzug gegeben oder – je nach Schwere des Delikts – sogar zur Disqualifikation führen können.
Aber wie hätte der ach-so-coole Typ von der Schule, der alles dafür tat, so zu sein wie Kurt Cobain, seinen Kumpels erklären sollen, dass in seinem Plattenschrank neben der „Nevermind“ von Nirvana auch „There is a Party“ von DJ Bobo stand? Noch schlimmer: die stand da nicht nur! Er legte sie auch manchmal noch auf, bevor er abends „auf Piste“ ging, um dann im Kreise seiner zottligen Entourage nach allen Regeln der Kunst dem gerade nach Deutschland rübergeschwappten Grunge zu frönen.
Wie hätte er seinen Kumpels erklären sollen, dass in seinem Plattenschrank neben der „Nevermind“ von Nirvana auch „There is a Party“ von DJ Bobo stand?
Meine schwere Jugend
Mir ging es ähnlich wie dem Möchtegern-Kurt. Was die Definition der eigenen Identität mittels Musikgeschmack und der sich daraus ableitenden „Fashion“ und Attitüde angeht, hatte ich sogar eine besonders schwere Jugend. Ich konnte nämlich so ziemlich jeder Musikrichtung und jedem Klamottenstil irgendetwas abgewinnen und wollte mich gar nicht festlegen. Das war damals aber eigentlich nicht vorgesehen. Es waren die späten 80er bzw. frühen 90er Jahre. Wenn man Imagepflege betreiben wollte, musste man sich schon irgendwo verorten und irgendwie festlegen, ob man denn jetzt eher Rocker oder Rockabilly, Psychobilly Popper, Rapper, Grunger, Skater, Sprayer, Punker, Waver oder Angehöriger sonst einer subkulturellen Erscheinung war.
Von jedem etwas sein zu wollen – quasi als Genre-Tourist durch die bunte Welt der Möglichkeiten zu reisen – war natürlich irgendwie unglaubwürdig und verpönt. Es funktionierte daher in der Praxis auch nicht wirklich gut, jedenfalls nicht in zu kurzen Abfolgen.
„Du, haste schon gehört, der Alex ist jetzt Psychobilly. Und Stefan ist seit dem Sommer Skater.“ „Echt? Krass. Ist der Lars nicht auch Psychobilly?“ „Nee, ich glaube, der ist jetzt Punk. Ich habe ihn neulich jedenfalls mit ’ner Sexpistols-Platte gesehen.“
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So richtig hätte jedenfalls keiner gesagt: „Du, Mensch, das finde ich jetzt richtig stark von dem, dass der so offen ist und einfach mal alles ausprobiert.“ Ich habe trotzdem eine Zeitlang mit verschiedenen Stilen und Accessoires experimentiert, um meinen Vorbildern aus der Bravo, der Disco oder denen vom Schulhof nachzueifern, meist jedoch so vorsichtig (oder inkonsequent?), dass es für eine richtig ordentliche Schublade, in die man mich hätte stecken können, nie gereicht hat.
Der Stefan ist seit dem Sommer Skater. Und Alex ist jetzt Psychobilly.
Das Wandern zwischen den Subkulturen war ein schmaler Grat, wenn man ernst genommen werden wollte.
Zwischen Industrial-Music und Schneewalzer
Ein bißchen schlingerte ich so vor mich hin wie der Typ, der draußen auf Kurt Kobain machte und zu Hause DJ Bobo hörte. Eigentlich noch schlimmer: Ich besaß obendrein sogar noch die Chuzpe, abends in meiner Lieblings-Disco mit DocMartens-Stiefeln und Gletscherbrille zu der stampf-stampf-Musik von Front 242 zu tanzen (ok, Industrial-Music war mehr Trampeln als Tanzen), um dann am nächsten Tag als Alleinunterhalter auf einer Hochzeit bei Kaffee und Kuchen den Schneewalzer zum Besten zu geben. Autsch! Erzähl’ das mit 16 oder 17 mal in der Schule rum.
Zur selben Zeit war ich auch noch Keyboarder und jüngstes Mitglied in einer Coverband, die trotz aller Amateurhaftigkeit in Eckkneipen und auf Laubenpieperfesten recht erfolgreich Hits der 60er und 70er Jahre – inklusive Schlagerschmalz à la Juliane Werding, Peter Maffay oder Mireille Mathieu – schmetterte. Selbst vor den Wildecker Herzbuben schreckten wir nicht zurück, wenn der sturzbesoffene Mob das zu später Stunde von uns verlangte. Ab einer bestimmten Uhrzeit und einem bestimmten Pegel war unserem dankbaren Publikum einfach alles willkommen, was 3 Akkorde, wenig Text und Mitgröhlpotential hatte. Nach unten hin waren unsere Grenzen weit offen. Wo war ich da nur hineingeraten? Jedenfalls war das nix, was ich in ein Freundschaftsbuch in die Rubrik „Meine liebsten Hobbies“ oder „Meine Lieblingsmusik“ geschrieben hätte. Auch war es als Topthema bei einem ersten Date eher ungeeignet.
Abends mit DocMartens und Gletscherbrille zu Front 242 tanzen, am nächsten Tag bei Kaffee und Kuchen den Schneewalzer zum Besten geben.
Wie sollte ich das jemandem erklären?
Pecunia non olet. 🤑🤑🤑
Richtig, Geld stinkt nicht. Und so waren diese musikalischen Ausflüge aus finanzieller Sicht für mich als taschengeldbeziehender Fast-Abiturient gar nicht so blöd. Meine Kumpels trugen bei Wind und Wetter für ein paar schmale Taler Zeitungen aus oder räumten Supermarktregale ein. Ich konnte Musik machen und sogar für umme ein bißchen mit unserem Publikum mitsaufen.
Bei Sonnenaufgang ging ich dann zwar fix und fertig und mit etlichen Kubikmetern Nikotin in der Lunge – damals wurde noch mit Volldampf in geschlossenen Räumen geraucht – aber auch mit einigen Scheinchen in der Tasche nach Hause. Trotzdem hoffte ich bei derartigen Veranstaltungen immer, dass mich da jetzt bitte nicht irgendwelche coolen Typen oder gar Mädels von der Schule bei meinen nächtlichen Humtata-und-Tätärä-Ausflügen entdecken würden. Irgendwie wäre das meinem gewünschten Image (was auch immer das sein sollte) nicht sehr zuträglich gewesen, dachte ich damals.
Später wurde mir das alles egal. Mein gesamtes Studium hindurch und darüber hinaus machte ich noch Musik und irgendwann auch keinen Hehl mehr daraus, dass es sich dabei nicht immer nur um das Coolste vom Coolsten handelte. Ich hatte einfach Spaß daran und konnte sogar noch Geld damit verdienen. Es spielte auch keine Rolle mehr, WAS für Musik ich konsumierte, komponierte oder reproduzierte, wobei ich dann irgendwann auch in einer Band spielte, die wirklich ziemlich cool war und worauf ich auch offen stolz sein durfte.
Auch mit der Mode wurde es mit zunehmendem Alter entspannter. Irgendwann interessierte es in meinem Umfeld eh niemanden mehr, was auf meinem T-Shirt oder meiner Jacke stand und ob ich Docs, Chucks, Sneaker, Slipper oder Birkenstock an den Füßen trug. Wobei ich Letztere tatsächlich nie mochte oder besaß. Und heute, mit fast 50, genieße ich wie wahrscheinlich die meisten meiner Generation quasi Narrenfreiheit, weil man einfach nicht mehr cool sein oder sich einen bestimmten Anstrich geben muss, nur weil man auf dem Schulhof wem gegenüber auch immer ein bestimmtes Image pflegen will. Entscheidend ist, dass man mit gutem Gewissen in den Spiegel schauen kann.
Nackt gut aussehen!
Apropos Spiegel: Da war mir dann neulich doch mal was peinlich. Ich war ganz schön aus den Fugen geraten und landete bei den Weight Watchers, mit deren Hilfe ich meinen Kilos, von denen ich deutlich zu viel angesammelt hatte, den Kampf ansagte. Ich kam, sah, zählte Punkte und siegte. Nach etwa einem Jahr hatte ich rund 20 Kg abgespeckt und mein Wunschgewicht erreicht. Doch meine aufkeimende Midlife-Crisis sagte zu mir:
„Nee, mein Freund! Schlank sein reicht uns jetzt nicht mehr. Jetzt zünden wir mal die nächste Stufe! Wir wollen doch schließlich auch ein Stück von dem Kuchen, der sich Muskelzuwachs nennt.“
OK, das fand ich jetzt nicht die schlechteste Idee. Zum fünfzigsten Geburtstag mit Sixpack statt mit dicker Wampe die Lowcarb-Torte anzuschneiden und mit Proteinshake anzustoßen, klang zwar nicht so richtig krass nach Party. Aber die Aussicht, in meiner zweiten Lebenshälfte erstmalig einen trainierten Körper im Spiegel bewundern zu können, motivierte mich.
Mein Nachbar, der im Vergleich zu mir schon ein paar Jahre älter aber auch deutlich durchtrainierter ist, empfahl mir wärmstens ein Buch mit dem Titel – Achtung , jetzt kommt’s: LOOKING GOOD NAKED [1]. Ja, du hast richtig gelesen. NACKT GUT AUSSEHEN! Untertitel: „Schlank, definiert & sexy – mit Hanteltraining und Blitzrezepten“. Ich dachte erst, der will mich jetzt verarschen. Ich glaube, so alt könnte ich gar nicht werden, als dass es mir niemals peinlich sein würde, mit einem Buch namens „Looking good naked“ im Straßencafé erwischt zu werden. Das würde sich dann wahrscheinlich so anhören:
Die andere Person so: „Hi, lange nicht gesehen. Darf ich mich zu dir setzen? Was liest’n da? Uijuijuij! Looking good naked!? Geiler Schweinskram oder was?“ ICH so: „Ach, das Buch hier meinst du? Äh … das äh, … keine Ahnung, … das gehört mir nicht. Das lag hier schon … so … rum.“
Ansonsten wäre doch die nächste konsequente Frage gleich, ob ich denn „naked“ jetzt schon „good & sexy looke“? Und dann müsste ich sagen: „Nee, nicht wirklich, aber ich arbeite dran.“ Und dann müsste ich mir immer vorstellen, dass die anderen sich vorstellen, wie ich nackt aussehe?! Kopfkino aus bitte! AUS! AUS! AUS!!!! 😭
„Ach, das Buch hier meinst du? Äh … das äh, … keine Ahnung, … das gehört mir nicht. Das lag hier schon … so … rum.“
Auf die Frage, ob das Buch „Looking good naked“ mir gehört.
Allein dass es mir peinlich ist, einen Buchtitel peinlich zu finden, ist mir schon peinlich. 😬
Tatsächlich ist dieses Buch für mich bis heute die Offenbarung schlechthin und war ein echter Gamechanger für meine Sicht auf Sport und Ernährung, auch wenn ich das Ziel, welches der Buchtitel quasi vorgibt, noch nicht erreicht habe, vielleicht auch niemals erreichen werde. Wobei ja „looking good“ auch immer Auge des Betrachters liegt. Anders jedenfalls als der Titel vielleicht vermuten läßt, liefert der äußerst fähige und sympathische Autor Mark Maslow eine fundierte, leicht verständliche und motivierende Anleitung für ein gesundes und fittes Leben und zeigt, wie man langfristig durchhalten und dranbleiben kann. Ich weiß, ich sollte in meinem Alter über solchen Dingen stehen. Aber wann immer ich das Buch irgendwo mit hingenommen habe, wo ich hätte beobachtet werden können, habe ich peinlichst genau darauf geachtet, dass niemand sehen konnte, welchen Titel meine Lektüre trägt.
Als ich realisierte, dass mir allen Ernstes der Titel eines Buches peinlich ist (allein, dass mir das peinlich ist, ist mir schon peinlich), war es wie ein kleiner Flashback zurück in meine Jugend. Und dann dachte ich: „Eigentlich lustig, dass mir ein Buchtitel peinlich ist.“ Man soll ja jede Gelegenheit nutzen, um zu Lachen, am besten über sich selbst. 🤡
Das soll es für heute erstmal gewesen sein. Danke für dein Interesse, bis bald und herzliche Grüße,
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Quellen
1. Mark Maslow. Looking good naked. Schlank definiert & sexy – mit Hanteltraining und Blitzrezepten. Südwest Verlag; 5. Edition (12. Dezember 2016)
Ich kann mich gut an die Zeit erinnern und war zum Teil auch eine „Gestaltwandlerin“, einfach, um mich auszuprobieren. Inkonsequent? Vielleicht. Aber wie könnte man der Jugend etwas derartiges verübeln? Ich frage mich, ob es heute in der Jugendkultur immer noch diese strengen Gruppenbildungen gibt wie früher, oder ob sich da durch Social Media etwas verändert hat.