#10 Mir muss nichts mehr peinlich sein. Ich muss einfach nur noch nackt gut aussehen!

Neulich hatte ich mal wieder einen interessanten Dialog mit meiner Midlife-Crisis und dachte darĂŒber nach, was mir heutzutage eigentlich noch peinlich sein muss. Ich kam zu dem vorlĂ€ufigen Ergebnis, dass mein Alter fĂŒr mich arbeitet. Ich kann mit solidem Selbstvertrauen, einer gewissen Schmerzfreiheit und SelbstverstĂ€ndlichkeit Dinge tun, die mir in jungen Jahren noch höchst unangenehm gewesen wĂ€ren. Oder mach ich mir da was vor?


In meinem Faktencheck erfÀhrst du mehr zu der Frage: Woran erkenne ich eine Midlife-Crisis?


Im Minenfeld der Selbstfindung

Fußangeln, FettnĂ€pfchen und No-Gos aller Art gab es im jugendlichen Alter genug. Das dĂŒrfte daran liegen, dass man bei der Findung seiner eigenen IdentitĂ€t bestimmten Vorbildern oder Vorstellungen gerecht werden wollte und sich dabei gezwungenermaßen einer ganzen Reihe von Regeln und BeschrĂ€nkungen unterwarf. Im Nachhinein und bei nĂ€herer Betrachtung war das eigentlich eine bedauernswerte Limitierung. Man hĂ€tte gern dies oder das gesagt oder gemacht, aber das hĂ€tte in den Kreisen, in denen man sich bewegte oder gern bewegen wollte, Punktabzug gegeben oder – je nach Schwere des Delikts – sogar zur Disqualifikation fĂŒhren können.

Schwierige Frage in der Jugend: Was will ich darstellen? Wer will ich sein? Keine leichte Entscheidung.

Aber wie hĂ€tte der ach-so-coole Typ von der Schule, der alles dafĂŒr tat, so zu sein wie Kurt Cobain, seinen Kumpels erklĂ€ren sollen, dass in seinem Plattenschrank neben der „Nevermind“ von Nirvana auch „There is a Party“ von DJ Bobo stand? Noch schlimmer: die stand da nicht nur! Er legte sie auch manchmal noch auf, bevor er abends „auf Piste“ ging, um dann im Kreise seiner zottligen Entourage nach allen Regeln der Kunst dem gerade nach Deutschland rĂŒbergeschwappten Grunge zu frönen.

Wie hĂ€tte er seinen Kumpels erklĂ€ren sollen, dass in seinem Plat­ten­schrank neben der „Never­mind“ von Nirvana auch „There is a Party“ von DJ Bobo stand?

Meine schwere Jugend

Mir ging es Ă€hnlich wie dem Möchtegern-Kurt. Was die Definition der eigenen IdentitĂ€t mittels Musikgeschmack und der sich daraus ableitenden „Fashion“ und AttitĂŒde angeht, hatte ich sogar eine besonders schwere Jugend. Ich konnte nĂ€mlich so ziemlich jeder Musikrichtung und jedem Klamottenstil irgendetwas abgewinnen und wollte mich gar nicht festlegen. Das war damals aber eigentlich nicht vorgesehen. Es waren die spĂ€ten 80er bzw. frĂŒhen 90er Jahre. Wenn man Imagepflege betreiben wollte, musste man sich schon irgendwo verorten und irgendwie festlegen, ob man denn jetzt eher Rocker oder Rockabilly, Psychobilly Popper, Rapper, Grunger, Skater, Sprayer, Punker, Waver oder Angehöriger sonst einer subkulturellen Erscheinung war. 

Psychobilly war evolutionsmĂ€ĂŸig so eine Art Hybridkultur aus Rockabilly und Punk. Hatten wir damals auch einige an der Schule. Fand ich mega cool. Aber abgesehen davon, dass ich kaum wusste, was es heißt, ein Psychobilly zu sein, hĂ€tte ich mich auch nie getraut, mir so einen Haarschnitt zuzulegen. (Foto: https://www.rockabilly-rules.com)

Von jedem etwas sein zu wollen – quasi als Genre-Tourist durch die bunte Welt der Möglichkeiten zu reisen – war natĂŒrlich irgendwie unglaubwĂŒrdig und verpönt. Es funktionierte daher in der Praxis auch nicht wirklich gut, jedenfalls nicht in zu kurzen Abfolgen.

„Du, haste schon gehört, der Alex ist jetzt Psychobilly. Und Stefan ist seit dem Sommer Skater.“ „Echt? Krass. Ist der Lars nicht auch Psychobilly?“ „Nee, ich glaube, der ist jetzt Punk. Ich habe ihn neulich jedenfalls mit ’ner Sexpistols-Platte gesehen.“

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So richtig hĂ€tte jedenfalls keiner gesagt: „Du, Mensch, das finde ich jetzt richtig stark von dem, dass der so offen ist und einfach mal alles ausprobiert.“ Ich habe trotzdem eine Zeitlang mit verschiedenen Stilen und Accessoires experimentiert, um meinen Vorbildern aus der Bravo, der Disco oder denen vom Schulhof nachzueifern, meist jedoch so vorsichtig (oder inkonsequent?), dass es fĂŒr eine richtig ordentliche Schublade, in die man mich hĂ€tte stecken können, nie gereicht hat.

Der Stefan ist seit dem Sommer Skater. Und Alex ist jetzt Psychobilly.

Das Wandern zwischen den Subkulturen war ein schmaler Grat, wenn man ernst genommen werden wollte.

Zwischen Industrial-Music und Schneewalzer

Ein bißchen schlingerte ich so vor mich hin wie der Typ, der draußen auf Kurt Kobain machte und zu Hause DJ Bobo hörte. Eigentlich noch schlimmer: Ich besaß obendrein sogar noch die Chuzpe, abends in meiner Lieblings-Disco mit DocMartens-Stiefeln und Gletscherbrille zu der stampf-stampf-Musik von Front 242 zu tanzen (ok, Industrial-Music war mehr Trampeln als Tanzen), um dann am nĂ€chsten Tag als Alleinunterhalter auf einer Hochzeit bei Kaffee und Kuchen den Schneewalzer zum Besten zu geben. Autsch! ErzĂ€hl’ das mit 16 oder 17 mal in der Schule rum.

Zur selben Zeit war ich auch noch Keyboarder und jĂŒngstes Mitglied in einer Coverband, die trotz aller Amateurhaftigkeit in Eckkneipen und auf Laubenpieperfesten recht erfolgreich Hits der 60er und 70er Jahre – inklusive Schlagerschmalz Ă  la Juliane Werding, Peter Maffay oder Mireille Mathieu – schmetterte. Selbst vor den Wildecker Herzbuben schreckten wir nicht zurĂŒck, wenn der sturzbesoffene Mob das zu spĂ€ter Stunde von uns verlangte. Ab einer bestimmten Uhrzeit und einem bestimmten Pegel war unserem dankbaren Publikum einfach alles willkommen, was 3 Akkorde, wenig Text und Mitgröhlpotential hatte. Nach unten hin waren unsere Grenzen weit offen. Wo war ich da nur hineingeraten? Jedenfalls war das nix, was ich in ein Freundschaftsbuch in die Rubrik „Meine liebsten Hobbies“ oder „Meine Lieblingsmusik“ geschrieben hĂ€tte. Auch war es als Topthema bei einem ersten Date eher ungeeignet.

Abends mit Doc­Mar­tens und Gletscher­brille zu Front 242 tanzen, am nÀchsten Tag bei Kaffee und Kuchen den Schnee­walzer zum Besten geben.

Wie sollte ich das jemandem erklÀren?

Foto: https://musicscore.ms/performers/12432?lang=en

Pecunia non olet. đŸ€‘đŸ€‘đŸ€‘

Richtig, Geld stinkt nicht. Und so waren diese musikalischen AusflĂŒge aus finanzieller Sicht fĂŒr mich als taschengeldbeziehender Fast-Abiturient gar nicht so blöd. Meine Kumpels trugen bei Wind und Wetter fĂŒr ein paar schmale Taler Zeitungen aus oder rĂ€umten Supermarktregale ein. Ich konnte Musik machen und sogar fĂŒr umme ein bißchen mit unserem Publikum mitsaufen.

Bei Sonnenaufgang ging ich dann zwar fix und fertig und mit etlichen Kubikmetern Nikotin in der Lunge – damals wurde noch mit Volldampf in geschlossenen RĂ€umen geraucht – aber auch mit einigen Scheinchen in der Tasche nach Hause. Trotzdem hoffte ich bei derartigen Veranstaltungen immer, dass mich da jetzt bitte nicht irgendwelche coolen Typen oder gar MĂ€dels von der Schule bei meinen nĂ€chtlichen Humtata-und-TĂ€tĂ€rĂ€-AusflĂŒgen entdecken wĂŒrden. Irgendwie wĂ€re das meinem gewĂŒnschten Image (was auch immer das sein sollte) nicht sehr zutrĂ€glich gewesen, dachte ich damals.

SpĂ€ter wurde mir das alles egal. Mein gesamtes Studium hindurch und darĂŒber hinaus machte ich noch Musik und irgendwann auch keinen Hehl mehr daraus, dass es sich dabei nicht immer nur um das Coolste vom Coolsten handelte. Ich hatte einfach Spaß daran und konnte sogar noch Geld damit verdienen. Es spielte auch keine Rolle mehr, WAS fĂŒr Musik ich konsumierte, komponierte oder reproduzierte, wobei ich dann irgendwann auch in einer Band spielte, die wirklich ziemlich cool war und worauf ich auch offen stolz sein durfte.

Auch mit der Mode wurde es mit zunehmendem Alter entspannter. Irgendwann interessierte es in meinem Umfeld eh niemanden mehr, was auf meinem T-Shirt oder meiner Jacke stand und ob ich Docs, Chucks, Sneaker, Slipper oder Birkenstock an den FĂŒĂŸen trug. Wobei ich Letztere tatsĂ€chlich nie mochte oder besaß. Und heute, mit fast 50, genieße ich wie wahrscheinlich die meisten meiner Generation quasi Narrenfreiheit, weil man einfach nicht mehr cool sein oder sich einen bestimmten Anstrich geben muss, nur weil man auf dem Schulhof wem gegenĂŒber auch immer ein bestimmtes Image pflegen will. Entscheidend ist, dass man mit gutem Gewissen in den Spiegel schauen kann. 

Nackt gut aussehen!

Apropos Spiegel: Da war mir dann neulich doch mal was peinlich. Ich war ganz schön aus den Fugen geraten und landete bei den Weight Watchers, mit deren Hilfe ich meinen Kilos, von denen ich deutlich zu viel angesammelt hatte, den Kampf ansagte. Ich kam, sah, zÀhlte Punkte und siegte. Nach etwa einem Jahr hatte ich rund 20 Kg abgespeckt und mein Wunschgewicht erreicht. Doch meine aufkeimende Midlife-Crisis sagte zu mir:

„Nee, mein Freund! Schlank sein reicht uns jetzt nicht mehr. Jetzt zĂŒnden wir mal die nĂ€chste Stufe! Wir wollen doch schließlich auch ein StĂŒck von dem Kuchen, der sich Muskelzuwachs nennt.“

OK, das fand ich jetzt nicht die schlechteste Idee. Zum fĂŒnfzigsten Geburtstag mit Sixpack statt mit dicker Wampe die Lowcarb-Torte anzuschneiden und mit Proteinshake anzustoßen, klang zwar nicht so richtig krass nach Party. Aber die Aussicht, in meiner zweiten LebenshĂ€lfte erstmalig einen trainierten Körper im Spiegel bewundern zu können, motivierte mich.

Mein Nachbar, der im Vergleich zu mir schon ein paar Jahre Ă€lter aber auch deutlich durchtrainierter ist, empfahl mir wĂ€rmstens ein Buch mit dem Titel – Achtung , jetzt kommt’s: LOOKING GOOD NAKED [1].  Ja, du hast richtig gelesen. NACKT GUT AUSSEHEN! Untertitel: „Schlank, definiert & sexy – mit Hanteltraining und Blitzrezepten“. Ich dachte erst, der will mich jetzt verarschen. Ich glaube, so alt könnte ich gar nicht werden, als dass es mir niemals peinlich sein wĂŒrde, mit einem Buch namens „Looking good naked“ im StraßencafĂ© erwischt zu werden. Das wĂŒrde sich dann wahrscheinlich so anhören:

Die andere Person so: „Hi, lange nicht gesehen. Darf ich mich zu dir setzen? Was liest’n da? Uijuijuij! Looking good naked!? Geiler Schweinskram oder was?“ ICH so: „Ach, das Buch hier meinst du? Äh 
 das Ă€h, 
 keine Ahnung, 
 das gehört mir nicht. Das lag hier schon 
 so 
 rum.“

Ansonsten wĂ€re doch die nĂ€chste konsequente Frage gleich, ob ich denn „naked“ jetzt schon „good & sexy looke“? Und dann mĂŒsste ich sagen: „Nee, nicht wirklich, aber ich arbeite dran.“ Und dann mĂŒsste ich mir immer vorstellen, dass die anderen sich vorstellen, wie ich nackt aussehe?! Kopfkino aus bitte! AUS! AUS! AUS!!!! 😭

„Ach, das Buch hier meinst du? Äh 
 das Ă€h, 
 keine Ahnung, 
 das gehört mir nicht. Das lag hier schon 
 so 
 rum.“

Auf die Frage, ob das Buch „Looking good naked“ mir gehört.

Allein dass es mir peinlich ist, einen Buchtitel peinlich zu finden, ist mir schon peinlich. 😬

TatsĂ€chlich ist dieses Buch fĂŒr mich bis heute die Offenbarung schlechthin und war ein echter Gamechanger fĂŒr meine Sicht auf Sport und ErnĂ€hrung, auch wenn ich das Ziel, welches der Buchtitel quasi vorgibt, noch nicht erreicht habe, vielleicht auch niemals erreichen werde. Wobei ja „looking good“ auch immer Auge des Betrachters liegt. Anders jedenfalls als der Titel vielleicht vermuten lĂ€ĂŸt, liefert der Ă€ußerst fĂ€hige und sympathische Autor Mark Maslow eine fundierte, leicht verstĂ€ndliche und motivierende Anleitung fĂŒr ein gesundes und fittes Leben und zeigt, wie man langfristig durchhalten und dranbleiben kann. Ich weiß, ich sollte in meinem Alter ĂŒber solchen Dingen stehen. Aber wann immer ich das Buch irgendwo mit hingenommen habe, wo ich hĂ€tte beobachtet werden können, habe ich peinlichst genau darauf geachtet, dass niemand sehen konnte, welchen Titel meine LektĂŒre trĂ€gt.

Als ich realisierte, dass mir allen Ernstes der Titel eines Buches peinlich ist (allein, dass mir das peinlich ist, ist mir schon peinlich), war es wie ein kleiner Flashback zurĂŒck in meine Jugend. Und dann dachte ich: „Eigentlich lustig, dass mir ein Buchtitel peinlich ist.“ Man soll ja jede Gelegenheit nutzen, um zu Lachen, am besten ĂŒber sich selbst. đŸ€Ą

Das soll es fĂŒr heute erstmal gewesen sein. Danke fĂŒr dein Interesse, bis bald und herzliche GrĂŒĂŸe,

Till Aigner

Level X GrĂŒnder und Autor. Motto: Die Midlife-Crisis als Chance und Abenteuer begreifen.

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Quellen

1. Mark Maslow. Looking good naked. Schlank definiert & sexy – mit Hanteltraining und Blitzrezepten. SĂŒdwest Verlag; 5. Edition (12. Dezember 2016)

1 Gedanke zu „#10 Mir muss nichts mehr peinlich sein. Ich muss einfach nur noch nackt gut aussehen!“

  1. Ich kann mich gut an die Zeit erinnern und war zum Teil auch eine „Gestaltwandlerin“, einfach, um mich auszuprobieren. Inkonsequent? Vielleicht. Aber wie könnte man der Jugend etwas derartiges verĂŒbeln? Ich frage mich, ob es heute in der Jugendkultur immer noch diese strengen Gruppenbildungen gibt wie frĂŒher, oder ob sich da durch Social Media etwas verĂ€ndert hat.

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