Warum wir mehr Biografien lesen sollten.

Ich freue mich über jeden Menschen und gönne es ihm, wenn er mir erzählt, er sei mit seinem Leben total zufrieden und täte das, was er immer tun wollte. Je nachdem, wie gut mein Verhältnis zu der jeweiligen Person ist, hake ich dann gern nochmal nach: „Und ist da gar nichts, was du meinst, verpasst zu haben?“

Warum ich das frage? Zum einen, weil ich mir diese Frage in meiner Midlife-Crisis – zumindest in einigen Bereichen – selbst stelle, zum anderen, weil ich in einem Buch neulich an folgender Passage hängen blieb:

„Es hat etwas Tröstliches zu wissen, dass es zu den unvermeidlichen Begleiterscheinungen eines reichen, erfüllten Lebens zählt, dass man etwas verpasst. In dieser Erkenntnis steckt ein wunderbarer Gedanke: Die Welt hält so viele schöne Dinge für uns bereit, dass ein einzelnes Menschenleben gar nicht ausreicht, um sie alle zu genießen. Sie könnten es nicht einmal, wenn Sie unsterblich wären: Ihre Biographie wird sich immer von den anderen unendlichen Leben, die Sie hätten führen können, unterscheiden. Sprich, Sie verpassen immer etwas.“

Kieran Setiya, Midlife-Crisis. Eine philosophische Gebrauchsanweisung, S. 77 [1]

Autsch! Das tut erstmal weh, wenn man sich bewusst macht, etwas verpasst zu haben. Alleine schon den Bus, den Paketboten oder eine TV-Liveshow zu verpassen, ist richtig blöd. Aber eine wirklich einzigartige Gelegenheit im Leben verpasst zu haben, das kann richtig schmerzlich werden. In diesem Zusammenhang habe ich eine kleine Rätselaufgabe für dich. Es geht um Menschen des öffentlichen Lebens und deren Gemeinsamkeiten:

Bei Steve Jobs und Elon Musk würde man recht schnell eine Idee davon haben, warum man beide im gleichen Atemzug nennt, schließlich kann man sie als echte Ausnahmeunternehmer bezeichnen. Was aber verbindet unsere (Stand 2023) Außenministerin Annalena Baerbock mit Desirée Nosbusch und Ilka Bessin aka „Cindy aus Marzahn“? Welche Schnittmenge gibt es zwischen Arnold Schwarzenegger, Roland Kaiser, Phil Collins und Nelson Mandela? Haben der Drogeriekönig Dirk Rossmann, der ewige Rocker Udo Lindenberg und der ehemalige US-Präsident Barack Obama irgendwelche Gemeinsamkeiten? 

Alleine schon den Bus, den Paketboten oder eine TV-Liveshow zu verpassen, ist richtig blöd. Aber eine wirklich einzigartige Gelegenheit im Leben verpasst zu haben, das kann richtig schmerzlich werden.

Ja, alle der oben genannten Personen haben etwas gemeinsam. Von jeder habe ich eine Biografie in meinem Bücherschrank stehen und diese in den  letzten 2 Jahren auch mindestens einmal gelesen. Es gibt noch etliche Biografien mehr, die ich mittlerweile im wahrsten Sinne verschlungen habe, auch von mehr oder weniger unbekannteren Menschen. Meine besondere Vorliebe gilt dabei den Autobiografien und den Biografien, die von den jeweiligen Personen ausdrücklich autorisiert wurden oder zumindest unter deren Mitwirkung entstanden. Wie auch immer, eine Biografie bringt mir selbst am meisten, wenn ich von maximaler Authentizität ausgehen kann.  

Was ist so toll an Biografien?

Neulich fragte ich mich, warum es mir ausgerechnet dieses Genre so sehr angetan hat. Doch nicht nur ich frage mich das. „Alter, warum ziehst du dir die Biografie von Roland Kaiser rein?“, fragte mich neulich ein Kumpel stirnrunzelnd. Ich gelte nun wirklich nicht als dessen größter Fan, Anhänger der „Kaisermania“ oder des deutschen Schlagers generell. Aber wie ich schon in meinem Artikel Mir muss nichts mehr peinlich sein, ich muss einfach nur noch nackt gut aussehen schrieb, darf ich in meinem Alter eh jegliche Musik hören, die mir passt, ohne Angst, dass ich auf dem Schulhof deshalb vor den Inquisitor komme, der über die Einhaltung subkultureller Konventionen wacht.

Bei meinem Hunger nach Biografien wandere ich furchtlos durch die Genres. Auf Nelson Mandela und Barack Obama folgten Udo Lindenberg und Cindy aus Marzahn und kürzlich auch Roland Kaiser, von dessen Leben ich bislang auch nicht viel wusste und unglaublich beeindruckt war.

Meine kurze und einfache Antwort in solchen Fällen lautet meist, dass der- oder diejenige ein wirklich faszinierendes Leben geführt hat oder immer noch führt. Ich finde es einfach interessant, etwas über die wirklichen Geschichten, Intentionen, Erfolge, Fehler und Schicksale der Menschen zu erfahren, über die sonst nur oberflächlich und leider oft schlecht recherchiert in den Medien berichtet wird. Dass für mich noch mehr dahinter steckt, habe ich selbst erst vor Kurzem erkannt.

Kieran Setiya, Autor des o.g. Buches „Midlife Crisis – Eine philosophische Gebrauchsanweisung“ [1] bringt auf den Punkt, was mich – zunächst wahrscheinlich eher unbewusst –  in das Genre der Biografien eintauchen ließ. Er berichtet aus seiner Kindheit, als er als zwölfjähriger an einem Gedichts-Workshop teilnahm. In einer Unterrichtseinheit sollte jeder Teilnehmer einen Zettel aus einem Hut ziehen. Auf jedem Zettel stand eine Figur, wie z.B. Astronaut, König, Schauspieler, Polizist, Künstler, etc. Die Aufgabe bestand darin, ein Sonett aus der Perspektive der jeweiligen Figur zu schreiben, die man gezogen hatte. Setiya war mit seiner konkreten Aufgabe gar nicht glücklich:

„Auf meinem Zettel stand ‚Model‘. Ich war damals zwölf und beneidete das Kind, das ‚Astronaut‘ gezogen hatte. Unsicher und verlegen versuchte ich, wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben, die Welt durch die Augen eines anderen Menschen zu sehen.“

Kieran Setiya, Midlife-Crisis. Eine philosophische Gebrauchsanweisung, S. 69 [1]
Buch von Kieran Setiya: Midlife Crisis. Eine philosophische Gebrauchsanweisung
Dieses Buch half mir auf die Sprünge, um zu verstehen, warum es mir Biografien seit einiger Zeit so angetan haben.

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Die Welt durch die Augen eines anderen Menschen zu sehen, finde ich faszinierend und sinnvoll. Einerseits kann ein solches Erlebnis unseren „Empathie-Muskel“ trainieren, was uns stärker darin macht, uns in andere Menschen hineinzuversetzen: „Warum hat diese oder jene Person in dieser oder jenen Situation sich so oder so verhalten oder dieses oder jenes getan? Wie hätte ich mich in dieser Situation verhalten? Warum hat diese Person überhaupt dieses Leben gelebt?“ Andererseits hilft es uns bei einem Problem, welches oft ein zentraler Bestandteil der Midlife-Crisis ist, dem Gefühl, etwas verpasst zu haben. Setiya schreibt dazu in seinem Buch über den Erfahrungsbericht eines Kollegen:

„Ich bekam Mitte 1994 so etwas wie eine Midlife-Crisis. Das war der Sommer, als ich vierzig wurde. (…) Alles lief damals unvorstellbar gut in meinem Leben. Aber ich hatte drei kleine Kinder und eine riesige Hypothek, und auf einmal überkam mich das bedrückende Gefühl, dass sich ab jetzt nichts mehr ändern würde. Ich würde nie … ach keine Ahnung … nie einen Roman schreiben, nie einen Film drehen, nie Folksänger werden oder all die anderen Dinge tun, von denen ich immer geträumt hatte. Die schiere Notwendigkeit, ein gewisses Einkommen zu erzielen, zwang mich dazu, für immer dasselbe zu machen, und diese Vorstellung war unendlich deprimierend.“

Kieran Setiya, Midlife-Crisis. Eine philosophische Gebrauchsanweisung, S. 68 [1]

Ich denke, wenn man von sich sagen kann, ein grundsätzlich erfülltes Leben zu führen, dann ist die Vorstellung, ein anderes Leben nicht geführt oder verpasst zu haben, nur noch philosophischer Natur und nicht mehr wirklich praxisrelevant. Dennoch ist die Frage legitim und interessant: Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich zu irgendeinem Zeitpunkt an irgendeiner Stelle in eine andere Richtung abgebogen wäre?

Was ich an der Lektüre von Biografien so spannend finde, ist, dass sie meine „Was-wäre-wenn-Phantasie“ beflügelt. D.h. ich bekomme eine Vorstellung davon, wie es gewesen wäre, wenn ich Sänger, Schauspieler, Politiker, Comedian, arbeitslos, weltweit erfolgreicher Unternehmer, hochverschuldet oder Multimillionär geworden wäre. Die weite Welt der Biografien gibt so ziemlich alles her, was die eigene Vorstellungskraft anheizt. Dabei kann ich einer Biografie umso mehr abgewinnen, je tiefer, ehrlicher, selbstkritischer und lehrreicher sie für mich ist. 

Buchcover Biografie Phil Collins - Da kommt noch was - Not dead yet.

Die Musik hat mir alles gegeben, aber sie hat mir auch alles genommen.

Phil Collins

Phil Collins‘ Abrechnung mit dem eigenen Leben

Es gibt Biografien, da kennt man oft schon vieles aus dem Leben der Personen, so dass es keine großen Aha-Effekte oder Überraschungsmomente gibt. Doch es gibt auch immer wieder Menschen, die kennt man schon sein ganzes Leben lang aus Presse, Radio, Fernsehen, etc. und weiß ansonsten eigentlich gar nichts über sie. Was mich bislang am stärksten beeindruckt hat, war die Autobiografie von Phil Collins mit dem Titel „Da kommt noch was. Not dead yet“ [3]. Collins kennt wahrscheinlich so ziemlich jeder meiner Generation, ich stelle ihn trotzdem kurz vor: Er ist Schlagzeuger Sänger, Songwriter, Produzent und Schauspieler und wurde sowohl als Mitglied der Rockband Genesis als auch als Solokünstler bekannt. 

Ganz gleich, wie man zu Phil Collins steht, dieses Lied wird so ziemlich jeder meiner Generation schon mindestens einmal gehört haben. „In the Air tonight“ war die erste Single aus seinem Debut-Solo-Album „Face Value“ von 1981.

Phil Collins gehört mit über 150 Millionen verkauften Tonträgern (plus 150 Millionen mit Genesis) zu den weltweit erfolgreichsten Musikern. Seine Autobiografie gehört für mich zu den ehrlichsten und schonungslosesten Abrechnungen mit dem eigenen Leben. Die folgende Passage gibt einen guten Eindruck davon, wie hart Collins mit sich selbst ins Gericht geht:

Ich trage gegenüber jedem meiner Kinder eine Schuld. Offen gesagt: Ich trage die Schuld an allem. Die langen Phasen meiner Abwesenheit, all die Augenblicke, die ich verpasst habe, all die Zeiten, in denen eine Tour oder ein Album dem häuslichen Glück oder der Rettung dieses Glücks im Wege standen. Die Musik hat mir alles gegeben, aber sie hat mir auch alles genommen.    

Phil Collins, Da kommt noch was – Not dead yet, S. 512 [3]

Bei dem letzten Satz lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Da hat jemand ein Leben lang außerordentlich erfolgreich das getan, wofür er sich bestimmt fühlte und muss dann irgendwann die Aussage treffen, dass ihm das alles gegeben, aber auch alles genommen hat. Man kann das nur nachvollziehen, wenn man jede einzelne Seite des Buches gelesen hat, was aufgrund des spannenden und ereignisreichen Lebens von Phil Collins eine sehr kurzweilige Angelegenheit, aber keinesfalls leichte Kost ist. Dass er mit über 50 Jahren zum Schwerstalkoholiker geworden ist, der sich fast zu Tode getrunken hat und seine Abstürze und seinen schmerzhaften Entzug in jeder Einzelheit schildert, empfand ich streckenweise schon fast verstörend. Es wird für ihn alles andere als leicht gewesen sein, dass alles so detailliert aufzuschreiben oder aufschreiben zu lassen, aber im Ergebnis ist eine der offensten oder ehrlichsten Biografien, die ich bisher gelesen habe.

Biografien zur Verarbeitung und Vergebung?

Ob Biografie-Autoren wie Phil Collins auch im Sinn haben, dass ihnen Absolution erteilt wird, weiß ich nicht. Es klingt bei ihm streckenweise ein wenig danach, weil er immer wieder Erklärungsversuche unternimmt, warum er in dieser oder jenen Situation so oder so gehandelt hat oder meinte, nicht anders handeln zu können oder dachte, es wird schon klappen und am Ende schließlich von der Schuld spricht, die er gegenüber seinen Kindern und seiner Familie trägt, wie z.B. in diesen Passagen:

Während ich fast vier Jahrzehnte lang nahezu unablässig weltweit unterwegs war, mit Genesis und als Solokünstler, hielt ich die Fiktion aufrecht, dass ich eine solide Existenz als Familienvater führen und gleichzeitig meine Karriere als Musiker weiterverfolgen könnte.

Phil Collins, Da kommt noch was – Not dead yet, S. 41 [3]

Nichtsdestoweniger, man mag es glauben oder nicht, bin ich immer noch verzweifelt darum bemüht, alles unter einen Hut zu bringen – unsere Ehe, unsere Familie, unser neues Zuhause, unsere Band. Ich lasse einen Teller in der Luft kreisen und muss dabei zusehen, wie ein anderer zu Boden fällt.

Phil Collins, Da kommt noch was – Not dead yet, S. 212 [3]

Ich bitte Jo und Simon hier und jetzt um Entschuldigung für meine Selbstsucht. Damals kam ich das nicht so schlimm vor, ehrlich, vor allem da ich an einer anderen Front zu kämpfen hatte.

Phil Collins, Da kommt noch was – Not dead yet, S. 318 [3]

Es gäbe noch etliche Passagen mehr, die sich offen oder auch nur zwischen den Zeilen wie die Bitte um Vergebung lesen. Ich glaube, wenn man sich Gedanken über den Sinn des Lebens macht oder in der Midlife-Crisis damit hadert, welche Richtung man in seiner zweiten Lebenshälfte einschlagen will, dann können insbesondere diese Art von Biografien heilsam sein. Denn wenn wir das Pferd einmal von hinten aufzäumen bzw. das Leben vom Ende her betrachten, dann ist der Gedanke, eines Tages solche Schuldgefühle zu haben und sich öffentlich bei seiner Familie für seine Egozentrik und Selbstsucht entschuldigen zu müssen, doch sehr unbehaglich.

Wie würde deine eigene Biografie aussehen?

Hast du dir schon mal überlegt, wie sich deine Biografie lesen würde? Ich glaube, darüber nachzudenken, ist ein guter Gradmesser dafür, wie gut du mit dir selbst, deiner Familie und deinen Freunden im Reinen bist. Ich finde es jedenfalls total spannend, sich darüber Gedanken zu machen und dadurch die eigenen Prioritäten von Zeit zu Zeit zu überprüfen und – wenn nötig – zurechtzurücken. Denn ich möchte in ein paar Jahrzehnten nicht schreiben müssen, dass mir dieses oder jenes alles gegeben, aber auch alles genommen hat.

Das soll es für heute erstmal gewesen sein. Danke für dein Interesse, bis bald und herzliche Grüße,

Till Aigner

Level X Gründer und Autor. Motto: Die Midlife-Crisis als Chance und Abenteuer begreifen.

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Quellen

Kieran Setiya

Titel:Midlife Crisis. Eine philosophische Gebrauchsanweisung.
Autor:Kieran Setiya
Herausgeber:Insel Verlag; Erste Auflage (Berlin, 13.5.2019)
Seiten:211
ISBN 10:3458177884
ISBN-13978-3458177883
SpracheDeutsch

Roland Kaiser

Titel:Sonnenseite – Die Autobiografie
Autor:Roland Kaiser, Sabine Eichhorst
Herausgeber:Heyne Verlag; Originalausgabe Edition (18. Oktober 2021)
Seiten:400
ISBN 10:3453218175
ISBN-13978-3453218178
SpracheDeutsch

Phil Collins

Titel:Da kommt noch was – Not dead yet: Die Autobiographie
Autor:Phil Collins, Henning Dedekind (Übersetzer), Heike Schlatterer (Übersetzer)
Herausgeber:Heyne Verlag (11. Mai 2020)
Seiten:528
ISBN 10:3453605519
ISBN-13978-3453605510
SpracheDeutsch

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